Ur: Die Königsgräber

Ur: Die Königsgräber
Ur: Die Königsgräber
 
Die Entdeckung der Königsgräber von Ur war einer der glanzvollsten Augenblicke für die Wissenschaft vom Alten Orient. Mit den Grabungen von Babylon, Assur und Uruk und den Texten aus den Bibliotheken Ninives und Nippurs hatte sie zwar eindrucksvolle Zeugnisse ans Tageslicht gebracht, jedoch nie die gleiche Aufmerksamkeit erregen können wie die Ägyptologie mit ihren Pyramiden und zahllosen wertvollen Funden. Zum ersten Mal wurde nun nicht nur ein ungeheurer Reichtum an kostbaren Materialien wie Gold, Silber und farbigen Halbedelsteinen sichtbar, sondern auch eine Kunstfertigkeit, wie man sie für das frühe Babylonien nicht erwartet hatte.
 
Die Königsgräber von Ur wurden an einer Stelle gefunden, an der das mehrere Meter über der Stadt gelegene Zentralgebiet in einem Abhang zum Stadtgebiet hin abfiel. Diese Stelle war bereits seit dem 5. Jahrtausend für Bestattungen genutzt worden. Da hier fortwährend der Schutt aus dem Zentralbereich über den Abhang gekippt worden war, war das Gelände in der Höhe und nach dem Stadtgebiet zu immer weiter angewachsen. Eine relativ kleine Fläche konnte daher dauernd für Bestattungen genutzt werden, ohne sofort überfüllt zu werden. Allerdings kam es dennoch zu zahlreichen Störungen durch spätere Grabgruben.
 
Als erste Hauptattraktion fand man zum einen ein größeres Grab, aus dem neben Rollsiegeln und Keramikgefäßen ein Helm aus Gold in Form einer Perücke geborgen wurde, zum anderen den Komplex zweier gemauerter Grüfte, die augenscheinlich mitsamt ihrem Inventar kaum gestört waren. Solche Grüfte baute man so auf den Boden einer tief eingegrabenen Grube, dass auch noch für weitere Teile des Begräbniszeremoniells Raum blieb. Meist führte von der Erdoberfläche aus eine lange Rampe hinab, auf der man Baumaterial und Beigaben - darunter auch Wagen und Zugtiere - hinunterbringen konnte. In mehreren Fällen war außerhalb der Gruft das Gefolge bestattet, das die Hauptperson in den Tod begleitet hatte: Soldaten mit ihren Waffen und die weibliche Dienerschaft mit ihrem reichen Schmuck, zum Teil noch mit Musikinstrumenten in den Händen. Alle diese Personen befanden sich noch an der Stelle, wo das Bestattungszeremoniell sie postiert hatte. An ihnen fanden sich keine Spuren einer Gewaltanwendung, sodass man annimmt, dass alle zu einem bestimmten Zeitpunkt Gift zu sich genommen hatten.
 
Mit der Zufüllung der Grube war das Bestattungszeremoniell jedoch noch nicht beendet. Die weiteren Vorgänge sind aber für uns kaum erkennbar, da wie zuvor das gesamte Gelände auch späterhin als normaler Friedhof diente, sodass häufig durch neu angelegte Gräber die Spuren weiterer Zeremonien verwischt wurden. Allerdings fanden sich im oberen Teil einer anderen Grabgrube zahlreiche Schichten mit Keramikgefäßen und anderem Inventar, die auf eine anschließende Reihe von Opferhandlungen deuten, die sich möglicherweise über eine längere Zeit erstreckten. Auf der Oberfläche über diesem Grab war ferner ein kleiner Bau errichtet worden, der wohl hauptsächlich dazu gedient haben dürfte, den Ort für spätere Opferungen zu markieren. Insgesamt fanden sich zehn gemauerte Grüfte und sieben weitere Gruben ohne Grüfte mit allen Anzeichen für das gleiche Bestattungszeremoniell. Die meisten waren bereits im Altertum ausgeraubt worden, bargen aber noch so viele Funde, dass man aus ihnen auf den ehemaligen Reichtum der Bestatteten schließen kann. Darunter fanden sich so bedeutende Stücke wie die »Standarte«, der »Widder im Dickicht«, Reste von großen verzierten Leiern, Waffen, Prunknadeln und Gefäße aus Gold oder Silber.
 
Obwohl einige Funde - etwa Siegel und Gefäße - Namensbeischriften tragen, gelingt es kaum, die Gräber bestimmten Personen zuzuweisen oder diese historisch einzuordnen. Dabei bewegen wir uns mit den Königsgräbern von Ur bereits in einer Zeit, für die uns zum ersten Mal Texte historische Nachrichten liefern und für die wir zumindest in Grundzügen über die politische Geschichte orientiert sind. Hierbei ist leider auch die »Sumerische Königsliste«, eine Zusammenstellung aus dem beginnenden 2. Jahrtausend, die hintereinander die Dynastien mit ihren Herrschern von Anbeginn an bis in die Abfassungszeit hinein aufzählt, nur von begrenzter Hilfe. Denn Namen wie Mesanepada und Aanepada, die dort als die ältesten Könige von Ur erscheinen, sind uns nur von Siegelabrollungen aus einer Schuttschicht bekannt, die über den Königsgräbern lag. Wir vermuten daher, dass die in den Königsgräbern Bestatteten älter sind als die Herrscher der 1. Dynastie von Ur. Zwei beschriftete Siegel aus den Grüften nennen einen König Meskalamdug (nicht zu verwechseln mit dem ehemaligen Besitzer des Goldhelms) und einen namens Akalamdug; aufgrund des ähnlichen Klangs ihrer Namen mit den beiden Herrschern der 1. Dynastie stellt man sich beide als Vater und Sohn vor, die den Thron von Ur also vor der 1. Dynastie innegehabt hätten.
 
Wie so oft im Alten Orient wirft also auch dieser Fundkomplex ein grelles Licht auf einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Zeit, lässt aber den räumlichen und zeitlichen Kontext im Ungewissen. Aufgrund eines ähnlichen Friedhofs im nordbabylonischen Kisch wissen wir aber wenigstens, dass die Art der Be- und Ausstattung des Friedhofs von Ur keineswegs auf diesen Ort beschränkt war. Für die spätere Zeit können wir immerhin auf die gemauerten Grabanlagen der Könige der 3. Dynastie von Ur verweisen, die sich über die Ausstattung allerdings ausschwiegen, weil sie völlig ausgeraubt vorgefunden wurden. Aus der älteren Zeit kennen wir dagegen nichts, was uns anzeigen würde, ob die Zurschaustellung des ungeheuren Reichtums eine Besonderheit dieser Zeit war oder nur die Fortsetzung einer älteren Übung.
 
Wie aber kann man die Aufwendigkeit der Ausstattung des Königsfriedhofs von Ur erklären? Vielleicht könnte sie der sichtbare Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungen sein, die sich in dieser Zeit vollzogen. Denn die Verlagerung des Großteils der Bevölkerung in die Städte hatte schon stattgefunden, durch den Rückgang des Wassers war die Notwendigkeit der Anlage von Kanalsystemen entstanden. Als Ballungsräume sowie als Schaltstellen für die Verteilung des Wassers hatten damit die Städte einen erheblichen Machtzuwachs erhalten. Territoriale Konflikte, die zuweilen in Kämpfe ausarteten, stärkten noch einmal die lokale Komponente. Es wäre daher einleuchtend, wenn der Versuch der einzelnen Stadtherrscher, eine lokale Identität zu begründen und zu sichern, eine Stärkung ihres Prestiges - etwa auch bei ihren Beisetzungen - zur Folge gehabt hätte. Des Weiteren dehnten sich in dieser Zeit die Handels- und sonstigen Kontakte weit über das frühere Maß hinaus aus. Obschon zu allen Zeiten enger Kontakt zu den Nachbarländern bestanden hatte, wie uns ihre importierten und zahlreich verwendeten Rohstoffe zeigen, scheint Babylonien jetzt in eine neue Phase geraten zu sein. So war etwa das um die Mitte des 3. Jahrtausends in Westsyrien entstandene politische Gebilde mit der Hauptstadt Ebla Babylonien durch die Übernahme der Keilschrift verpflichtet, stand aber auch sonst in engem Kontakt insbesondere zu dessen Norden. Auf den Osten jenseits des heutigen Iran weisen die großen Mengen an Lapislazuli, die für Schmuck und andere Gegenstände gerade aus dem Königsfriedhof von Ur verwendet wurden; dieser Halbedelstein wurde und wird im Badakhshan-Tal im Nordosten des heutigen Afghanistan abgebaut. Kontakte zum Indusgebiet werden sichtbar durch die Art, wie einige der in den Königsgräbern von Ur gefundenen Karneolperlen verziert sind: In einer aus dem Indusgebiet bekannten Technik entstanden weiße Muster durch Auftragen einer Alaunlösung und Erhitzen der Perlen. Möglicherweise ist dieses Auftrumpfen der lokalen Macht aber auch schon als Teil der Abwehrmaßnahmen gegen die zu dieser Zeit einsetzenden Bestrebungen zu sehen, größere politische Einheiten zu bilden und damit den Städten bzw. Stadtstaaten einen Teil ihrer Eigenständigkeit zu nehmen.
 
Prof. Dr. Hans J. Nissen

Universal-Lexikon. 2012.

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